"Dazu muss ich zunächst kurz erklären, wie ich dazu gekommen bin, mich für Polen zu interessieren. Wir hatten in der Schule, in der 11. Klasse ein halbes Jahr lang polnische Geschichte. Unser Geschichtslehrer hat anhand der polnischen Geschichte die Weltgeschichte abgehandelt. Das hat mir sehr gefallen, weil er auf diese Weise wie von Zauberhand ein verbreitetes Klischee widerlegt hat. Nämlich das Klischee, Polen läge fernab der Hauptstraßen der Geschichte. Was das 20. Jahrhundert betrifft, ist eigentlich sogar umgekehrt, kein Land hat so sehr im Mittelpunkt der weltpolitischen Erschütterungen gestanden, wie Polen. Und er hat gesagt, dass der damalige Papst, Johannes Paul II. einen großen Beitrag zum Fall des Kommunismus beigetragen hat. Das hat mich fasziniert. Als ich dann in Tübingen Geschichte studiert habe, habe ich gemerkt, dass es bei uns ein Institut für osteuropäische Geschichte gibt. Da habe ich ein paar Seminare besucht, dort schreibe ich jetzt auch meine Doktorarbeit über den Ort Tschenstochau und den polnischen Opfertopos.
Das Wort Opfertopos ist ein etwas sperriger
Begriff. Es geht dabei um das nationale Selbstbild Polens als Opfer der
Geschichte. Der Opferbegriff, der diesem Opfertopos zu Grunde liegt, ist ein
sakrifizieller. Das deutsche Wort Opfer wird in anderen Sprachen durch zwei
Wörter wiedergegeben: victim, und sacrifice. Victim ist ein juristischer
Opferbegriff und bezeichnet eine Person, die einen Schaden erlitten hat.
Sacrifice ist eher ein religiöser Opferbegriff und bezeichnet eine Opfergabe.
Dabei muss es sich nicht unbedingt um eine konkrete Opfergabe handeln, wie etwa
ein Opfertier. Es kann auch eine abstraktere Opfergabe sein, zum Beispiel ein
Verzicht oder ein Gebet. Es ein Opfer für etwas. Das Opfer bewirkt etwas Gutes.
Beim polnischen Opfertopos geht es um einen Opferbegriff im Sinne von
Martyrium. Martyrium ist die willige Annahme von Leid für das Erlösungswerk
Christi.
Jetzt kann man sagen, Christus ist doch am Kreuz
den Opfertod gestorben, er hat uns alle erlöst, wie kann dann der heutige
Mensch an seinem Erlösungswerk mitwirken. Das bezieht sich auf ein Wort des
Apostels Paulus im Kolosserbrief (Kol 1,24), wo er sagt: „Für den Leib Christi,
die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden
Christi noch fehlt.“ Pater Josef Kentenich, der im Zweiten Weltkrieg im
Konzentrationslager Dachau inhaftiert war, hat gesagt, wir sollen unser Leiden
annehmen als Splitter des Kreuzes Christi. Joseph Ratzinger schrieb in seiner
Einführung in das Christentum, dass die Welt nicht ohne Opfer existieren kann.
Hier in Warschau gibt es eine Militärkathedrale. Dort an der Tür steht
geschrieben: Liebe fordert Opfer. Die Welt kann nicht ohne Liebe existieren und
die Liebe existiert nicht ohne Opfer. Man hat diese Vorstellung auch mit Hilfe
der Weizenkorn-Symbolik ausgedrückt: Das Weizenkorn bring neue Frucht, wenn es
stirbt. Damit ist grob umrissen, worum es beim polnischen Opfertopos geht. Es
geht um die Annahme des Leids, das das 20. Jahrhundert den Menschen in Polen
abverlangt hat. Es geht um die Annahme diese Leidens als Mitgehen auf dem
Kreuzweg Christi.
Der polnische Opfertopos deutet die polnische
Geschichte als Martyrium. Die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts werden als
Mitgehen auf dem Kreuzweg Christi gesehen, als Beitrag zum Erlösungswerk
Christi.
Im Grunde genommen bietet der polnische Opfertopos
eine Antwort auf die Theodizee-Frage. Theodizee bedeutet Gerechtigkeit Gottes. Die
Theodizee-Frage ist die Frage, warum das Leid, das Böse in der Welt existiert,
obwohl Gott allmächtig und allgütig ist. Das ist auch die Frage nach der
Gerechtigkeit Gottes. Im Grunde genommen ist die Theodizee-Frage eine Frage,
die sich in besonderer Weise uns Christen stellt, weil wir an einen
allmächtigen und allgütigen Gott glauben. Im Hinduismus beispielsweise gibt es
gute Götter und böse Götter, und für das Leid in der Welt sind die bösen Götter
verantwortlich. Im Christentum können wir so einfache, klare Antworten nicht
geben. Man könnte zwar sagen, dass der Teufel für das Böse verantwortlich ist,
aber dann bleibt immer noch die Frage, warum Gott, der alles geschaffen hat,
zugelassen hat, dass es den Teufel gibt. Die Existenz des Leidens in der Welt
stellt die Güte und die Allmacht Gottes in Frage. Entweder Gott will das Leiden
nicht von uns abwenden, dann ist er nicht allgütig, oder er kann es nicht
abwenden, dann ist er nicht allmächtig.
Diese Frage hat mich in den letzten Jahren sehr
beschäftig, weil ich erstens eine Doktorarbeit über den polnischen Opfertopos
schreibe. Zweitens haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass Christen
zunehmend verfolgt werden, etwa im Irak und in Syrien. Und drittens hat die
Theodizee-Frage meine ganz persönliche Lebenssituation getroffen. Ich habe fast
10 Jahre lang einen Mann gesucht, einmal habe ich geglaubt, einen gefunden zu
haben. Dann bin ich zu dieser Internet-Plattform gegangen, wo ich letztes Jahr
Lukas kennen gelernt habe. Ich war sechs Jahre lang bei dieser Plattform, habe
ziemlich viele Männer getroffen, aber irgendwie hat es nie gepasst. Das war
sehr frustrierend. Man investiert viel Zeit in das Kennenlernen, schreibt
Mails, chattet… Und dann war die Mühe immer umsonst. Die Einsamkeit fand ich
zeitweise sehr belastend. Hinzu kommt eine Hörschädigung, die eine ganz andere
Dimension von Einsamkeit erzeugt. Mündliche Kommunikation ist das wichtigste
Bindeglied zwischen Menschen. Wenn diese Kommunikation dauerhaft behindert ist,
wenn man dauerhaft nicht alles verstehen kann, dann hat das sehr wohl
Auswirkungen auf die Psyche und auf die Persönlichkeit. Das sind keine
Hirngespinste von mir, weil ich so gerne jammere, da braucht man nur mal einen
Psychologen fragen, der mit Hörgeschädigten arbeitet. Ich habe auch keine
Geschwister. Neulich hat eine Frau mich gefragt, ob ich Geschwister habe, ich
verneinte, und sie sagte: Dann weißt du, was allein sein bedeutet. Vor fünf
Jahren hatte ich so eine Art Herzstillstand. Den habe ich überlebt, fand ich
toll. Aber ich muss seitdem mit einem Defibrillator rumlaufen, das finde ich
nicht immer so toll. Hinzu kommt, dass es in der heutigen Zeit gar nicht so
leicht ist, als junger Mensch den katholischen Glauben zu leben. Es gibt nicht
viele junge Leute, mit denen man den Glauben teilen kann. Und man wird auch oft
verlacht. Glaube heißt, dass ich an die Existenz Gottes glaube, sondern das
heißt, dass ich eine Beziehung zu Gott habe. Gott ist ein Gegenüber, ein Du.
Eine Beziehung will auch gepflegt werden, das wie bei einer Freundschaft. Das
heißt, der Glaube hat auch konkrete Auswirkungen auf mein Leben, meinen Alltag.
Das stößt eben nicht immer auf Verständnis. Auch andere Themen, etwa die
Sexualmoral stößt auch nicht immer auf Verständnis. Das hat für mich doch auch
die Gerechtigkeit Gottes in Frage gestellt. Dann hatte ich einen Beichtvater,
der mir immer gesagt hat, ich soll alleine bleiben. Das konnte ich für mich
nicht annehmen, aber ich wusste eben auch nicht genau, was der Wille Gottes
ist.
Nach Jahren des inneren
Ringens habe ich mich entschieden, den Beichtvater zu wechseln. Und das erste,
was mein neuer Beichtvater gesagt, was: Gott verheißt uns ein Leben in Fülle.
Deswegen ist das auch der Trauspruch.
Ich habe in all den Jahren
viele Antworten auf die Theodizee-Frage gehört, aber nur wenige davon waren
hieb- und stichfest. Eine beliebte Antwort lautet: Du musst dein Leiden
annehmen. Diese Antwort hat zwei Schwachpunkte. Erstens wird sie sehr schnell
zynisch. Stellen wir uns mal vor, da wir jemand gefoltert, und dann kommt ein
Christ uns sagt zu ihm: Du musst dein Leiden annehmen. Das ist zynisch.
Natürlich ist es so, dass man die leidvolle Situation zuerst einmal annehmen
muss, weil man keine andere Wahl hat. Aber es wird sehr schnell zynisch, wenn
dann ein anderer kommt, unser Leid nicht leidet, aber sagt, wir sollen unser
Leiden annehmen. Der zweite Schwachpunkt dieser Antwort ist, dass sie eine
große Passivität hervorruft. Es klingt im Grunde genommen so, als wäre das Leid
Gottes Wille, als sollte man das Leiden annehmen und sonst nicht tun. Das
stimmt eben auch nicht. Natürlich ist es so, dass man die leidvolle Situation
zuerst einmal annehmen muss, weil man keine andere Wahl hat. Aber deswegen
dürfen wir trotzdem versuchen, die leidvolle Situation zu ändern und wir dürfen
auch Gott darum bitten. Eine andere Antwort lautet, dass man für sein Leiden
danken soll. Es ist oft natürlich so, dass man im Nachhinein mit Dankbarkeit
auf die schweren Lebensphasen zurückblickt. Man kann aber eben oft erst im
Nachhinein erkennen, dass auch diese schwierigen Zeiten ihren Sinn. Das heißt,
die Dankbarkeit kann man auch erst im Nachhinein entwickeln. Auch diese Antwort
wir sehr schnell zynisch. Wenn wir noch mal zu dem Mensch zurückgehen, der
gefoltert wird. Es ist zynisch, ihm zu sagen, du musst für dein Leiden dankbar
sein.
Ich habe eigentlich nur
eine Antwort gehört, die für mich stimmig war: Die Antwort auf die
Theodizee-Frage kann jeder Mensch nur selbst erringen, in einem Ringen mit
Gott. Dieses Ringen ist manchmal ein Ringen auf Leben und Tod. Wenn man die
Antwort gefunden hat, muss sie vor jeder Verallgemeinerung bewahrt bleiben.
Was hat das ganze jetzt mit Stefan Wyszyński zu tun? Ich
habe ihn all die Jahre immer wieder um Rat gefragt. Habe seine Texte gelesen,
habe auch ganz persönlich mit ihm gesprochen, so wie ich auch mit Gott spreche.
Und ich habe da viele Antworten bekommen. Er war und ist mein Mentor. Stefan Wyszyński spricht immer davon, dass der Glaube
anspruchsvoll ist, dass Gott auch einen Anspruch hat, dass Gott das Recht hat,
uns zu prüfen. Gott ist nicht „der Lückenbüßer, der uns das Leben bequem macht,
sondern er ist ein Gott, der mit einem Anspruch an uns heran tritt.“ Zugleich war
Stefan Wyszyński zutiefst
optimistisch. „Es ist nicht meine
Gewohnheit zu sagen, daß es schlecht stehe und daß es noch schlechter werde,
auch wenn man bisweilen so etwas hört. Ich bin der Meinung, daß es so gut ist
und noch besser sein wird, wenn nicht jetzt, so sicher im zukünftigen Leben.
Ganz gewiß wird es dereinst so sein. Wenn ich sage, daß es gut ist, dann nicht
deshalb, um Worte zu machen, sondern um meinem lebendigen Glauben an die Kraft
und die Macht Gottes Ausdruck zu geben, der in der Welt wirksam ist und sein
Recht selber verteidigt. Manchmal läßt er schwierige Situationen zu und
gestattet es den Herrschern der Finsternis, zu Wort zu kommen, damit Gottes
Macht noch deutlicher werde. Wyszyński
hat betont, dass Gott immer gerecht ist, dass diese Gerechtigkeit irgendwann
auch wieder zum Vorschein kommen wird, dass am Ende das Gute siegen wird.
„Niemandem bleiben die Stunden des Dunkels erspart, der Herr schickt
sie, damit unsere Sehnsucht wächst, damit wir Geduld erlernen, damit wir die
Beharrlichkeit finden, die ihn nicht loslässt: Ich lasse dich nicht, du segnest
mich denn. Ich glaube, wir müssen diese Geduld des Wartens, des Aushaltens, das
demütige und beharrliche Klopfen an die Tür des schweigenden Gottes ganz
erlernen; die Bibel ist voll davon. Erst so werden wir geformt, erst dieser Weg
wird wahre Wanderschaft, Aufstieg zu den Höhen des Ewigen.“ (Joseph Ratzinger)
Gott hält die Welt in Händen, auch dann, wenn es so
scheint, als schweige er. Das ist der Tenor eines Films, den wir jetzt sehen
werden. Für das bessere Verständnis des Films muss ich einige historische
Fakten nennen: Die katholische Kirche Polens hat im Zweiten Weltkrieg ein
Martyrium erlitten, ca. ein Drittel des polnischen Klerus wurde ermordet. Dieses
Martyrium war ein Grund, warum die katholische Kirche in der polnischen
Bevölkerung ein hohes Ansehen genoss. Nach dem Krieg wurde Polen kommunistisch.
Nachdem es zunächst relativ ruhig verlief, wurden Anfang der 1950er Jahre, als
Polen die Hochphase des Stalinismus erlebte, wurden wieder sehr viele
Geistliche verhaftet. Auch der Primas der katholischen Kirche, Stefan Wyszyński. Dieser hat in
der Haft ein Programm der spirituellen Erneuerung Polens entworfen. Im Jahre
1956 kamen fast eine Millionen Menschen in Tschenstochau zusammen und haben
sich der Muttergottes geweiht. Sie haben ein Gelübde abgelegt. Zwei Monate
später wurde Stefan Wyszyński
wieder freigelassen und diese Phase des Stalinismus war beendet. Damit begann
eine Entwicklung, die tatsächlich zur Solidarność-Bewegung
der 1980er Jahre und somit zum Ende des Kommunismus geführt hat. Zur
Freilassung Wyszyńskis
muss ich noch eines sagen: er war der einzige, der osteuropäischen
Metropoliten, der auf seinen Bischofssitz zurückkehren konnte. Der Primas von
Tschechien, Josef Beran, war lange inhaftiert und durfte nach seiner
Freilassung nicht auf seinen Bischofssitz zurückkehren. Das gleiche gilt für
den Primas von Ungarn, Josef Mindszenty. Er war lange inhaftiert, wurde schlimm
gefoltert, und durfte nach seiner Freilassung nicht auf seinen Bischofssitz
zurückkehren. Josef Slipij, der Metropolit der unierten Kirche, war lange im
Gulag."
Nach diesem Abschluss haben wir einen Ausschnitt aus einem Film gezeigt:
Hier in voller Länge:
Wir hatten noch englische Untertitel dazu, aber dennoch haben wohl nicht alle Gäste alles verstehen können, aber es ist ein schöner Film.
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